GERÄUSCHE ODER STIMMEN - 2007/2011


[...] Die vorletzte Hypothese von Rumori o voci schlägt ein neues Modell der Stimme vor, das man ein Deleuziansiches nennen könnte.
Diese Hypothese geht davon aus, dass die zunächst als äußere bezeichnete Nacht, eigentlich eine innere ist. Das Laut-Tohuwabohu, das man in der Furcht sofort nach außen rücken mußte, dieses Laut-Tohuwabohu, das erst nachträglich als unheimliches, mit unzähligen Stimmen ausgerüstetes Tier durch einen Qualifizierungsakt existieren konnte, dieses Tier, dieses „Phantom des Zuhörens“ wäre immer schon der Wanderer selbst gewesen.
Das Laut-Tohuwabohu, das der Wanderer ist, kann er nie zum Schweigen bringen. Es gibt keine Stille des Bewußtseins, keine verstummte Stimme, die dem Wanderer die Garantie seiner eigenen, einheitlichen Selbstpräsenz gewährt: „Jetzt verschwindet […] die Fiktion von der Einzigkeit des Sprechers.“ Es schein also, dass der „vokale Spiegel“ hier zerbrochen ist. Bekanntlich bezeichnet das Spiegelstadium jene Entwicklungsphase des Kindes, bei der eine Selbstidentifikation des Ichs sowie eine Vervollständigung des eigenen Körperbildes dank des Spiegelbildes mit Verzückung vollzogen werden. Ähnliches geschieht im auditiven Bereich. Man hört sich selbst von innen, d.h. durch Ko-Vibrationen über Festkörper, und von aussen durch die Ohren und dank der Reflexionen der Wellen im Raum. Es bildet sich also zwischen beiden Hörweisen eine Rückkopplungsschleife,  die als audio-spezifische Intentionalität dem Zuhörer eine Einheitsillusion, eine laute Evidenz des Ichs verschafft. Doch verschmelzen diese Hörweisen niemals vollständig: wie die Akustiker hilft uns also Manganelli auf seine Weise dabei, trotz des trügerischen Sich-Hören-und-Vernehmens eine Differenz im Gehör zu etablieren.
Wie hört man sich aber auf der anderen Seite der Sprache, also jenseits dessen, wo es unmöglich ist, „nicht zu bemerken, dass ein fortgesetztes Krakeelen auch der Beginn einer Dialektik sein könnte“? Oder besser: Wie ist der blosse ,Träger‘ des bewussten Zuhören sowie der sprachlichen Beschreibung des Hörprozesses zu konzipieren?
Vielleicht so:
Stell dir nun vor, [es sei] ein riesiges Körperinstrument, aber reglos, des eigenen Körpers schwer, unkundig des Ortes, an dem es verharrt, [ja] ein Gewebe aus durchlüfteten Innereien […] – Lungen, Blasen, Höhlen und weich bebend klingende Därme –, und dass es kein anderes Leben, keine andere Seele besitzt als diese des Klingens, Schwingens, Schallens, Widerhallens, Dröhnens und feierlichen Singens, auch wenn es keinen Mund hat, wohl aber Ritzen, die scharfe und feine melodische Atemstösse ausstossen.
Dieser Hypothese nach hat die zitierte „Seele,“ die in den Gedärmen weht, die Schwelle zwischen Außen und Innen immer schon hinter sich gelassen. Des Wanderers Körper hat sich aufgelöst, ist zu einer gefalteten, nächtlichen Landschaft geworden. Es gibt nur noch:

ein gleichzeitiges Sprechen aus vielen Mündern, […] eine Menge Zungen, eine Menge Atemstösse, eine Menge von vokalen Orificien, […] eine Landschaft, die geeignet ist, Stimmen zu äussern, sei es durch Löcher in zerklüfteten Felsen, durch Ritzen in dürren Bäumen, erschauernde Brunnenschächte, erdige Gänge, sei es durch flötenförmig zugeschnitztes Gebein, dem der Wind sich zuspielt, oder durch eben diesen Wind, der überall abprallt und den rauhen, herben, gläsernen und flüssigen Oberflächen weiche Vokale oder stotternde Konsonantenverzweiflungen entlockt.

Diese Intensitäten, diese „Menge der Stimmen ist [es, was] den Sprechenden über sich informiert,“ ja sie geben ihm eine Form, und erst dann vermag er, festzustellen, dass in diesen, d.h. seinen Stimmen „eine Koinzidenz des Realen und des Idealen […], eine Kongruenz des Krakeelens und der Bedeutung“ steckt. Demnach finden wir in Rumori o voci eine Stimme, eine alternativlose voce-rumore, die als Grundrauschen der Dialektik, der Geschichte sowie der Kartographie des Stimmlichen charakterisiert ist. Jetzt führen alle bisherigen Stimmen zurück auf:

eine einzige Stimme [...], diejenige, die in alle Ritzen des Existierens eingedrungen ist, eine Stimme, die zum Sprechen Haare, Hände, Ringe, Zähne, Bauch – und Erde, Nacht, Wasser, Flüsse und lakustrische Ruhepausen, tote Tiere, flüchtende Tiere und senkrechte Vogelflüge benützt.

Diese fremde und zugleich intime Stimme, „die dir schon immer im Munde sprach, genauso wie die Nacht dir im Munde sass,“ ist eine „totale Stimme, die sich in den Klüften vervielfacht, an der Oberfläche der Nacht abprallt.“ Da fragt der Wanderer:

Ist es möglich, dass das jahrhundertlange Drängen einer Stimme Lippen erzeugt und aus den Lippen ein Gesicht ins Dunkel emporwächst? Ist es möglich, dass hinter diesem Stimmenuniverseum etwas existiert, das solche Stimmen gedankenvoll artikuliert?

Und antwortet selbst:

Ich würde nicht behaupten, dass diese unsinnigen Stimmen danach streben können, die Silben in Worte zu verschmelzen und die Worte zu einem klaren, scharfsinnigen und verständlichen Satz zu fügen. […] Dir steht indes keine verbale Dialektik oder beliebige Beredsamkeit gegenüber, sondern ein stimmliches Agglomerat ohne Anfang und Schluss.

Dieses ironische Dementi ist vor allem, so würden wir es verstehen, ein Plädoyer für die originäre Verkörperung fremder Stimmen, die wir uns auf dem Weg zum Sprechen angeeignet haben. [...]


Auszug aus der Konferenz zu Giorgio Manganellis Text "Rumori o voci", gehalten am 15. Dezember 2007 anlässlich des Kolloquiums "Bild, Stimme", Eikones, Universität Basel
Artikel in: Sabina Brandt, Maren Butte (Hgb.), Bild und Stimme, Fink Verlag München 2011
Réédition: Multiple numéro UN, 2018, pp. 39-46